Viele Erwachsene können das R nicht rollen
Bern 07.01.2025 - 06:45
In der Ostschweiz wird das R im Hals gebildet, in Zürich und Bern meist gerollt. Doch damit haben einige bis ins Erwachsenenalter Mühe.
Das Wichtigste in Kürze
- Viele Erwachsene können das R nicht rollen – obwohl es Teil ihres Dialekts wäre.
- In der Schule wird es Kindern nämlich nicht überall beigebracht.
- Sagen Zürcher oder Berner das R wie in der Ostschweiz, gilt dies auch als korrekt.
In vielen Deutschschweizer Dialekten wird das R gerollt – etwa in Zürich und Bern. Doch das bereitet auch dort einigen Mühe. Sie bilden es darum im Hals – wie in Ostschweizer Dialekten.
Ein Betroffener ist Simon Schärer* aus dem Kanton Bern. Der 30-Jährige ärgert sich über seine Aussprache. «Ich habe es als Kind verpasst, das R rollen zu lernen», sagt er zu Nau.ch.
Vor wenigen Wochen fällt er den Entscheid: Jetzt wird geübt!
«Eine Kollegin, die Logopädin ist, hatte nämlich gerade ein Kind bei sich, das auch das R rollen lernt. Also hat sie mir die Unterlagen mit den Übungen weitergeleitet», sagt er.
Buben und Männer öfter betroffen
Mit seinen Ausspracheproblemen ist Schärer nicht allein. Schon in seinem Umfeld gibt es weitere Männer, die das R nicht rollen können.
«Es handelt sich dabei um eine häufig auftretende Eigenheit bei der Lautbildung», erklärt Susanne Kempe bei Nau.ch. Sie ist Professorin für Interventionen bei Sprach- und Sprechstörungen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik.
Zahlen dazu, wie verbreitet das Phänomen ist, gibt es nicht. Allgemein fehlen in der Schweiz Daten zu «Sprachfehlern», wie sie im Volksmund genannt werden.
Basierend auf internationalen Studien wird davon ausgegangen, dass 7,5 Prozent der Schulkinder betroffen sind. «Bei Buben und Männern kommen Sprachentwicklungsstörungen etwas häufiger vor», sagt Kempe.
Und: «Es ist zu beobachten, dass es mehr Diagnosen im Bereich Sprach- und Sprechstörungen gibt.» Schwierig einzuschätzen sei, ob es sich um eine tatsächliche Zunahme handelt.
Eine Möglichkeit sei, dass es einfach mehr Diagnosen gibt, weil es mehr Menschen gibt in der Schweiz. Zudem gebe es heute ein grösseres Bewusstsein für solche Störungen und bessere Diagnosetools.
Ist das Handy mitschuldig?
Doch Susanne Kempe hält noch weitere Erklärungen für möglich.
Einige Beispiele: «Psychosoziale Faktoren wie Stress, finanzielle Sorgen oder Zeitmangel in Familien.» Das kann dazu führen, dass man sich weniger sprachlich mit ihnen austauscht.
«Auch der zunehmende Gebrauch digitaler Medien kann die Sprachentwicklung beeinflussen», erklärt die Expertin.
Denn: «Kleine Kinder, die viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, haben weniger direkten sprachlichen Austausch mit Eltern oder anderen Kindern.»
Fachkräfte fehlen
Schärer sagt, als Kind sei bei ihm zwar eine Logopädin in die Schule gekommen. Doch eine Sprachtherapie erhielt er nicht. Wie sieht die Situation heute aus – fehlt es an Fachkräften?
«Ja», sagt Logopädin Simone Kannengieser von der PH der Fachhochschule Nordwestschweiz zu Nau.ch.
«So ausgeprägt, dass Kinder, die wegen ihrer Sprechweise Ausgrenzung erfahren, keine Unterstützung erhalten, ist der Mangel aber nicht.»
Hinzu kommt: Betroffene wie Schärer können ein R aussprechen – nur nicht das gerollte. «Für die Informationsübermittlung macht es keinen Unterschied, ob das R gerollt wird oder nicht», sagt Kannengieser.
Dialekte würden sich nur scheinbar in Standardmuster pressen lassen. «Die Orientierung an fixen Normen ist wissenschaftlich gesehen überholt.»
Das dürfte erklären, warum Simon Schärer das gerollte R nicht beigebracht wurde.
«Blöde Sprüche»
Ob Störung oder nicht: Auch Schärer musste sich schon «blöde Sprüche» wegen seiner Aussprache anhören, wie er sagt. «Zum Glück nichts Schlimmeres, aber das kratzt schon am Selbstbewusstsein.»
Tatsächlich kann es laut Susanne Kempe auch bei leichten Aussprache-Einschränkungen zu Mobbing und Ausgrenzung kommen. Allerdings ist dies sehr selten.
Es gelte: «Je schwerwiegender und auffälliger die Störung ist, desto höher ist das Risiko.»
Erwachsene können gerolltes R auch noch lernen
Schärer übt derweil fleissig weiter. Kleine Fortschritte hat er bereits gemacht – zufrieden ist er damit jedoch nicht. «Das nervt schon. Aber ich mache mir keinen Druck.»
Edith Bohli vom Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband hat ermutigende Worte: «Auch im Erwachsenenalter ist es möglich, seine Art, zu sprechen, zu verändern. Logopädie lohnt sich aber auf jeden Fall in jedem Alter!»
Gefragt seien viel Geduld und Übung, um neue motorische Abläufe zu erlernen und zu automatisieren. «Wir wünschen dem jungen Mann viel Erfolg beim Lernen des gerollten R.»
* Name von der Redaktion geändert.