Berner Bettler lehnt Zmorge-Brötli ab – das sind die Gründe
Bern 29.06.2024 - 07:13
Eine Frau will einem Berner Bettler ein Brötli spenden. Er lehnt ab. Man soll besser Geld geben, rät die Gassenarbeit. Rechts-Politiker schütteln den Kopf.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Bettler in Bern lehnt eine Zmorge-Spende einer Passantin ab.
- Die Gassenarbeit Bern erklärt: Nur mit Geld könnten Obdachlose ihre Bedürfnisse abdecken.
- Manche Bettler würden rückmelden: «Das zehnte Schinkengipfeli hängt dir zum Hals raus ...»
- Ganz anders sehen es die Initianten des Bettelverbots – Geld wandere direkt zu Schleppern.
Halb acht Uhr morgens beim Loeb Egge in Bern. Ein Bettler sitzt mit violetter Decke zugedeckt auf dem Bahnhofsplatz. In der Hand hält er einen Kartonbecher, darin wenige Münzen.
Eine Frau läuft auf den Mann mittleren Alters zu – sie spricht ihn an. «Darf ich Ihnen ein Gipfeli anbieten?», fragt sie freundlich. Und streckt ihm das Zmorge entgegen.
Die Reaktion des Bettlers fällt für die Passantin sichtlich ernüchternd aus. Der Mann macht eine ablehnende Handbewegung. Er zeigt auf seinen Becher, er möchte Geld haben. Die Frau läuft kopfschüttelnd davon.
Bettler: «Das zehnte Schinkengipfeli hängt dir zum Hals heraus»
Enttäuscht dürfe man in solchen Fällen nicht sein, erklärt Eva Gammenthaler von der Gassenarbeit Bern. «Es gibt Bettler, die uns berichten: ‹Das zehnte Schinkengipfeli und das zehnte Kafi am Tag hängen dir zum Hals heraus ...›»
Dass Bettler Essen ablehnen, ist kein Berner Phänomen, sagt Walter von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber. Sein Rat: «Man darf es selbstverständlich zunächst mit der Frage nach Essen oder Trinken versuchen.»
Ein Nein soll man aber nicht persönlich nehmen. «Ein Betroffener sagte mir unlängst: ‹Wenn ich stets Ja sagen würde, würde ich an einer Sandwichübersättigung sterben.›»
Zudem gebe es Vegis und Gluten-Intolerante, die mit einem Schinken-Sandwich nicht viel anfangen können.
Gammenthaler rät, «den Bettlern besser Geld zu geben». Denn: «Mit Geld kann ein Bettler zum Beispiel die Notschlafstelle zahlen. Diese kostet zwischen fünf und 15 Franken. Für 15 Franken sitzen Bettler manchmal einen ganzen Tag.»
Süchtige trinken auch ohne den Fünfliber weiter
Oft seien Menschen bei Geldspenden skeptisch, weiss Gammenthaler. «Viele Menschen nehmen an, dass durch eine Geldspende der Konsum von Alkohol oder Zigaretten mitfinanziert wird.»
Aber: «Es geht aber auch um Selbstbestimmung.» Der Chef frage auch nicht, wofür Angestellte ihr Geld ausgeben. «Wenn der Suchtdruck das grössere Bedürfnis ist, sollte man das akzeptieren.»
Dass Bettler keinen Alkohol kaufen, wenn man ihnen kein Geld gibt, sei eine Illusion. «Dann hat man ein falsches Verständnis von einer Sucht. Die Sucht ist nicht überwunden. Obdachlose versuchen dann, anderweitig zu Geld zu kommen.»
Alk ist wichtig, aber auch Bücher, Kleider und Handy
Auch «Pfarrer Sieber» hört von Passanten oftmals, dass man Obdachlosen kein Geld gebe, weil dieses für Süchte ausgegeben wird. «Es ist schon so, dass Bettler mit Geld nicht immer Sinnvolles kaufen. Weil etliche süchtig nach Nikotin oder Alkohol sind, können sie gar nicht anders, als diese Sucht irgendwie zu befriedigen versuchen.»
Es gebe aber ganz viele andere Bedürfnisse und Wünsche, die mit einem Sandwich nicht befriedigt werden könnten. Zum Beispiel «Kleider, Bücher, Zelt, Rucksack, Taschenlampe und Handyguthaben». Heisst: «Die Frage ist also, wie viel Autonomie man einem Obdachlosen zubilligt.»
Berner SVP forderte ein Bettelverbot wie die Basler
Ganz anders sieht es die Bieler SVP-Gross- und Stadträtin Sandra Schneider. Sie kämpfte zuletzt für ein Bettelverbot im Kanton Bern nach dem Vorbild Basel. Ihre Motion erhielt auch viel Zuspruch aus der FDP, wurde im Grossen Rat aber abgelehnt.
«In unserem Land ist das Betteln auf der Strasse grundsätzlich nicht nötig», sagt Schneider. Das «engmaschige Sozialsystem» als auch private Anbieter könnten gezielt Hilfe bieten.
Der Rückgang der Bettelei in Basel seit Einführung des Bettelverbots zeige: «In den meisten Fällen handelt es sich nicht um echte Bedürftige. Es sind meist Ausländer, die genau hierfür in die Schweiz kommen. Dazu haben sie kein Recht – insofern ist es wichtig, diesen Leuten kein Geld zu geben.»
«Geld landet bei Schleppern und im Drogenmilieu»
Parteikollege und Grossrat Thomas Fuchs stört sich an der Empfehlung der Sozialwerke, man solle Geld spenden. «Das Argument Selbstbestimmung ist lächerlich und eigentlich eine Frechheit. Die Gassenarbeit weiss genau, dass das meiste Geld entweder bei Schleppern oder im Drogenmilieu landet. In Normalfall sind es organisierte Banden, die diesen armen Leuten alles wieder abnehmen.»
Eine Ausnahme würde Fuchs machen. «Wenn jemand einen künstlerischen oder kulturellen Beitrag leistet, kann man dies gerne mit einem Batzen unterstützen. Wenn man findet, die Leistung wäre es wert gewesen.»
Gespräch ist manchmal mehr wert als ein Fünfliber
Von Arburg nennt einen Weg, wie man Obdachlosen auch ohne Geldspende helfen kann. Sie würden nämlich meist «mindestens so sehr unter Vereinsamung und Isolation leiden». Mit einem ernsthaften Gespräch sei oftmals mehr geholfen als «mit einem gnädigst hingeworfenen Fünfliber».
Mitmenschen begegnen Obdachlosen immer weniger auf Augenhöhe, beobachtet auch Gammenthaler. «Seit Corona wollen noch weniger Leute mit ihnen reden. Die Akzeptanz für andere Lebensrealitäten geht zurück.»
Ganz allgemein würde das Leben auf der Strasse schwieriger. Plätze in Notschlafstellen werden knapper. «Selbst wenn man dem Bettler am Loeb Egge fünf Franken gegeben hätte, müsste er womöglich aufgrund von Platzmangel in der Notschlafstelle draussen schlafen.»